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Die neue Foodiekultur – und warum die uns auch betrifft

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Melanie Mühl, Redakteurin im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hat unlängst die Hipsters, die in der Berliner Markthalle Neun Austern schlürfen, weder sich  zur Brust, noch unter die Lupe genommen, aber uns einen Eindruck von der “Szene” vermittelt, und:

“… Berlins Foodszene ist keine abgeschottete Gemeinschaft einiger engagierter Craft-Beer-Brauer, Metzger und Bäcker, die das Handwerk zwar hochhalten, ihre Relevanz aber jenseits der Stadtgrenzen einbüßen.”

Die Frage scheint zu sein, ob sich hier eine neue Massenbewegung herauskristallisiert; was darauf hindeuten könnte ist “… diese Selbstverständlichkeit, mit der der Genuss, der bisweilen einen stolzen Preis hat, zelebriert wird”; sprich der Artikel ist nicht weniger als Kristallkugelleserei: Da werden Zeichen gedeutet, die alles mögliche bedeuten können, und alleine der “stolze Preis”, den die Hedonisten löhnen, macht sie zu keiner kulinarischen Elite und ihre “Bewegung” weder massentauglich noch automatisch fortschrittlicher als ein Oktoberfest, auf dem ja auch viel gestemmt wird, also Bewegung herrscht.

Der Markthallenmetzger verkauft jetzt auch wieder Schweineohren, erfahren wir, an Kundschaft, die in den 80er und 90er Jahren geboren ward und der “Generation Y” zugehöre.
Das muss ein Hauptstadtphänomen sein, oder frei erfundenes Metzgerlatein. Wahrscheinlich verkauft der Metzger auch Schweineschwarten an die Hipsters, die damit die Kette ihres Stadtfahrrads putzen und fetten, in einem Arbeitsgang und erdölfrei.

 

Warum schmeckt uns, was uns schmeckt?

Warum wissen wir oft nicht, wann wir satt sind? Was bisher gefehlt hatte, waren unterhaltsame Antworten auf diese Fragen. Jetzt aber haben wir einen kompetenten Zeugen des Jahrzehnts:

“Haase beschreibt sich selbst als „Foodie“, als Teil einer gesellschaftlichen Bewegung, für die Essen ein wichtiger Ausdruck des Lebensstils ist und die ihm eine höhere Bedeutung beimisst, als man es in Deutschland gewohnt ist. „Unter den in den achtziger und neunziger Jahren Geborenen wird häufiger und länger gekocht als in allen Generationen zuvor“, sagt er.”

Das klingt verdächtig nach Klischee und Pauschalisierung: “Eine Markthalle macht noch keinen Frühling”, genau genommen ist es auch nur ein Stand in einer Halle. Ein Metzger verkauft kein Gemüse, auch wenn er einen Zylinder auf dem Kopf hat.  Aber lassen wir noch ein Zitat folgen:

Tatsache ist, dass die oft als lethargisch, politisch desinteressiert und konsumorientiert abgestempelte Generation Y der Lebensmittelbranche zunehmend Kopfschmerzen bereitet. Ausgerechnet im Fastfoodland Amerika spürt die Industrie das von der Foodiekultur ausgelöste Beben besonders schmerzhaft. Im vergangenen Jahr veröffentlichte die Zeitschrift „Fortune“ einen Artikel über die tiefgreifenden Umwälzungen auf dem Lebensmittelmarkt unter der Überschrift: „Special Report: The war on big food“. Bebildert war die Geschichte mit einer Dose Tomatensuppe von Campbell, die in einer dickflüssigen, roten Flüssigkeit versinkt. Vier Milliarden Dollar haben die führenden Hersteller abgepackter Lebensmittel allein 2015 an Bio-Erzeugnisse und „Fresh“ verloren. Kunden, die einmal weg sind, kommen nicht wieder zurück.

Der Untergang der Dosen-Tomatensuppe wäre kein kultureller Verlust und bedeutet andererseits noch längst nicht den Aufgang einer neuen, nachaltig orientierten- und gesundheitsbewussten Esskultur, schon gar nicht, solange “die neue Hausmannskost” massenhaft aus den Tiefkühltruhen der Supermärkte in die Backöfen der VerbraucherInnen wandert.

 

Wie “präventiv” ist die Foodie-Bewegung – wenn es sie gibt?

Die neuen Foodies leben von Austern und Schweinsohren, haben, was bis jetzt noch nicht erwähnt wurde, auch ihre vegane Fraktion und haben, der Reihenfolge des Alphabets nach, gerade die Generation “X” abgelöst. Das Schöne hieran: Die Mitglieder der Generationen A-X waren in ihrer jeweiligen Kategorie gefangen, ohne es zu wissen. Vielleicht ist  “Generation X” ja auch nur eine Umschreibung für “Generation Vielfraß”:

Einen Großteil des ärztlichen Tagesgeschäfts machen bisher die Menschen aus, die viel Fleisch essen und sich tafelweise Schokolade gönnen, den Kuchen am Nachmittag mit der nötigen Portion Schlagsahne versehen und die Pommes gleich Kartoffeln als Gemüse verstehen.

Die Schachtel Zigaretten pro Tag ist so selbstverständlich wie die zwei, drei Feierabendbierchen.

Passend dazu finden wir in den Krankenhäusern die Folgen dieses Verhaltens: Patienten mit Herzinfarkt, Hypertonie, Adipositas, Diabetes. Metabolisches Syndrom. Das sind noch vor allem ältere Patienten, doch zunehmend betreffen diese Krankheiten auch jüngere Generationen. (Quelle)

So jedenfalls stellt sich die Situation aus Sicht von Solveig Mosthaf, einer angehenden Ärztin dar, und wenn Herzinfarkt, Hypertonie, Adipositas, Diabetes, also das  Metabolische Syndrom schneller, als die Tigermücke zusticht, auch die “Generation Y” befällt, muss die Idylle in der Markthalle wohl eine trügerische sein. Die Gefahr ist folglich riesengroß, Volk und Vaterland sind, “die Gesellschaft” ist gefährdet, die einzig denkbare Lösung:

 

Prävention

Die einzige Lösung lautet Prävention: Eine gesündere Lebensweise beugt vor. So hat die Lebensstilberatung im medizinischen Alltag inzwischen eine sehr große Bedeutung erlangt. Doch was ist der “richtige” Lebensstil?

Die Brille, durch die wir hier schauen, ist tief-rosa. Ähnlich wie bei einer Sonnenbrille gewöhnt man sich rasch ans veränderte Farbstpektrum – und stellt ärztliche Präventiv-Beratung selbst da in Rechnung, wo in der Schnell- und Instantmedizin für “sowas” rein gar keine Zeit bleibt.

Ärztin  zur Patientin: “Sie sind übergewichtig und leider willensschwach. Nehmen Sie mal 20 Kg ab, dann reden wir weiter”.

Das war kein Witz, kein Kompetenz-Beweis, sondern traurige Realität. Zu “Lebensstilberatung” gehört zumindest ein Konzept von “gesundem Lebensstil”, hier begeben wir uns nicht aufs Glatteis, aber in eine komplexe Materie, wobei es auf die individuellen Strukturen ankommt, auf jeweilige, einzigartige Probleme, von denen die Ärzte doch gar nichts wissen wollen, auf die sie im Studium nicht vorbereitet werden, deren Beherrschung kein Multiple-Choice-Test abfragen kann.

Meinetwegen sollen die neuen Foodies ihre panierten Schweineöhrchen mit Champagner herunterspülen – einen gesellschaftlichen Fortschritt kann ich in solchen Attitüden nicht erkennen.

Sicher brauchen wir eine neue “Foodiekultur” – aber nicht diese, die momentan in den Himmel gelobt wird, nicht schon wieder eine neue Fress-Mode, die bar jeder Vernunft von Event zu Location jettet und dem persönlichen Hedonismus das Nachhaltigkeitsinteresse unterordnet.

Vorrangig ist eine neue, kooperative Kultur der Ernährung, und die muss überhaupt garnicht auf Austern, Schampus und Schweinepfoten basieren.

Während Dosensuppen Umsatzrückgänge verkraften müssen, fleischverarbeitende Konzerne (sicherheitshalber?) Firmen mit veganen Produkten aufkaufen  und die Lieblings-Lebensmitteldeklaration der Verbraucher “glutenfrei” lautet, sollten wir uns um die Bedingungen, unter denen “echtes Essen” stattfinden kann, kümmern.

Deshalb will ich auch kein “Foodie” sein: Es gibt Wichtigeres als das Essen…

 

http://fortune.com/2015/05/21/the-war-on-big-food/

Liebe LeserInnen,

gibt es eine neue “Foodie-Kultur”, und was haben wir damit zu tun? Brauchen wir “Metzger im Schornsteinfeger-Kostüm” und Austern in der Markthalle – ist das ein wünschenswerter Lebensstil, und wann berät der Arzt präventiv und ausführlich in Hinblick auf die “gesunde Lebensweise”? Was sind Eure Erfahrungen?

 

Artikelbild cc

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