chanel

Erfahrungen mit Hartz Q: Praktikum bei Annelie, Sprachschulung und essbare Fäden in der Küche

| Keine Kommentare

Annelie hatte diesmal eine weitere Frau dabei, im Gefolge sozusagen, und stellte mich Ute, der Sprachlehrerin, die an einem Konzept-Projekt zur Qualifizierung älterer und arbeitsloser Arbeitnehmer und Selbstständiger teilnimmt (im Arbeitsagentur-Sprachgebrauch “Maßnahme Q”), vor:

“Klaus-Peter unterstützt mich bei der Konzeption der Mitarbeiterverpflegung, der Kantine der Global Collecting & Entrusting Bank (GCEB), die wegen des Brexit in Frankfurt eine Filiale in einem kleinen, feinen Bankentürmchen eröffnen wird.
Es geht ums Betriebsklima, denn viele Gefühle beginnen im Bauch, gesunde Ernährung verkürzt Fehlzeiten, wenn’s schmeckt, erhöht das die Motivation – als nachhaltig will die Bank sich ja auch verorten, und KP ist ein recht kreativer Rezeptentwickler und sicher hat er wieder etwas Neues!”

Das war ein Satz, den ich als Aufforderung verstand, eine neue Suppencreation zu präsentieren – “… allerdings nur ausschnitthaft, denn, was die Zubereitung betrifft, besteht hier doch ein größerer Erklärungsbedarf, wichtiger fände ich im Moment aber, mehr über Dich, Ute, und diese ominöse Maßnahme Q zu erfahren!”

Ute, eine hochgewachsene, sehr schlanke Frau mit wohlproportionierten Gesichtzügen, grauen Augen und gleichfarbigem, sehr feinem, aber fülligen, zum Pagenkopf geschnittenem Haar im graue Kostüm aus gewebtem Wollstoff, lindgrüner Bluse und schwarzen Wildleder-Pumps führte die Fingerspitzen ihrer Hände zusammen, räusperte sich kurz und erklärte:

“Nach der offiziellen Statistik stehen wir kurz vor der Vollbeschäftigung, und Schwarz-Rot hätte erfolgreich die Arbeitslosigkeit ausgemerzt.
Das ist aber lediglich eine Täuschung, in Wahrheit kommt der Effekt durch Vor-Ruhestand und Vor-Vor-Ruhestand, Langzeitkrankschreibungen und, bei den Selbständigen und Freiberuflern, die Verbuchung als “versorgt”, obwohl die Betroffenen nur am Rande des Existenzminimums herumkrebsen, zustande.

Andrea Nahles: " Immer wieder beschäftigen wir uns mit den Problemen der prekären Beschäftigung." Bilddateien cc, vgl. Wikipedia.de.

Die Bundeministerin für Arbeit, die wahrscheinlich ihr Amt auch nach den Bundestagswahlen behalten und ihrem Ressort. das den mageren Mindestlohn als soziale Errungenschaft feiert, noch ein wenig mehr Schärfe & Geschmack hinzufügen möchte, bringt nun die alte Idee von der Weiterqualifizierung Erwerbsloser wieder ins Spiel:

Arbeitslose werden qualifiziert – Sicherheit und Gerechtigkeit durch Leistung und Demokratie ist die neue Leitlinie zum Deutschen Musterstaat, und deshalb stimmen schon die ersten drei Worte dieses Bandwurmsatzes nicht, denn Frau wie Mann qualifizieren sich selbst,  bestenfalls mit Unterstützung der Unternehmen und Bildungseinrichtungen.”

Soweit der “Plan Q”, und damit der auch greift, gibt es dazu eine begleitende Sozialforschung – ja, schon im Vorfeld wird der Marsch zur Qualifikation sach- und fachgerecht beurteilt, evaluiert.

 

“Jetzt muss der Geist von Weimar, der Geist der großen Philosophen und Dichter, wieder unser Leben erfüllen.”

Friedrich Ebert hatte damals, am 6. Februar 1919 die Deutsche Nationalversammlung mit einer – heute würde man wohl sagen  “populistischen Rede” eröffnet – aber wer kann heute schon aus dem Standgreif 10 Dichter und PhilosopInnen, die den “Weimararer Geist” repräsentieren, nennen?

Trotzdem hat die Friedrich-Ebert-Stiftung Gelder für die qualifizierungs-begleitende Sozialforschung mobilisiert, denn das große Hartz-Q soll nicht floppen. Annelie ist in Wirklichkeit freigestellt, gar nicht ihren Job los, soll aber ein halbes Jahr so tun, als ob. Weil sie die Studie als willkommene Abwechslung betrachtet, ist sie dabei, und “… vielleicht ergibt sich sogar noch etwas Neues”.

Ein kurzes Brainstorming unseres improvisierten Teams ließ zunächst nur offene Fragen zurück:

  • Gibt es überhaupt Weiterqualifikation für Erwerbslose – und sind die bildungsfähig ???
  • Sind die Bundesagentur-Arbeitsberater für entsprechende Maßnahmenvermittlung qualifiziert?
  • Wie kann die Lebenserfahrung von Personen, die nicht mehr zu den Jüngsten gehören,, sinnstiftend genutzt werden?
  • Wie umgehen wir die Tendenz, das Hartz-Q-Klientel letztlich effektlos in kostenlosen Betriebspraktika zu verheizen?
  • Ist der sozialdemokratische Begriff von “harter Arbeit” (Bergwerk, Bau, Bundesgartenschau) überhaupt noch zeitgemäß, der Kumpel überholt?
  • Ist das soziale Ehrenamt (Stichwort: Gut/Bestmenschen-Flüchtlingshelfer, Tafel-HeldIn, Deutschlehrer mit Naturtalent) ein Arbeitsplatzvernichter?
  • Brauchen wir einen dritten oder vierten Arbeitsmarkt?
  • Wie viel Arbeit schafft Qualifizierungsarbeit, und wie werden die Qualifizierer gesichert?
  • Was richtet die Menschen wieder auf, wenn Arbeit “platt” macht?

Annelie meinte, gerade der eigentlich nicht nachvollziehbare Brexit zeige doch die Bedeutung von Bildung, auch Sprachbildung: Wenn Albanien in der EU nachrücke, sei die einzige Chance, sich mit den albanischen Einwohnern und Politikern zu verständigen, das flüssige Englisch.

Ute wagte eine These:

“Gerade, weil die Engländer keine Notwendigkeit zur Zweisprachigkeit empfinden, entgeht ihnen eine ganze Dimension des sprachvermittelten Weltverständnisses. Die Folklore, die sie aus dem Ausland wahrnehmen, halten sie für die Wirklichkeit – deshalb war “Liebfrauenmilch” bei denen so beliebt.
Dabei sind sie an außer-insulären Genüssen durchaus interessiert – aber verkrampft, wenn es um den authentischen Genuss geht. Zuckersüß ist die bevorzugte Geschmacksrichtung, was dazu führte, dass noch “…vor  zwei Jahrzehnten … die Hälfte der hiesigen Weinausfuhr unter dem Etikett Liebfrauenmilch vermarktet [wurde]. Deshalb haftet der englischen Genussoptimierung auch immer eine gewisse Trauer an:
“Many wine-lovers of my generation started their drinking careers with Liebfraumilch (although few now admit it).”
Diese Möchtegern-Weltbürger ruhen sich auf ihrem kolonialen Erbe aus und betreiben globale Sprachverweigerung.”

Annelie konnte das Gesagte aus einer weiteren Perspektive bestätigen; sie habe

“… Insiderinformationen, wonach in England Gold in unermesslicher Menge gebunkert wird – teil noch aus Piratenzeiten, dann aus dem Gewürz- und Sklavenhandel, und auch aus der Zeit der industiellen Revolutuion: Die Stahlkocher und Webstuhlbetreiber habe ihre Gewinne meist zur Hälfte in Gold angelegt und gebunkert. Deshalb ist die englische Oberklasse, die ja ihr eigenes Parlament hat, auch immer so gelassen, deshalb spielt die Schatzkarte so eine große Rolle in vielen englischen Romanen.”

Ich ergänzte noch den Aspekt der Importabhängigkeit, die üblicherweise bei den Lebensmitteln anfängt,

“… aber das betrifft unsereins ja auch, denkt doch nur mal an die Tomaten, die um diese Jahreszeit auch nicht in deutschen Vorgärten wachsen!

Aber ich habe immer noch nicht verstanden, warum Du, Ute, jetzt in dieser “Qualifizierungsmaßnahme” steckst, und was die bringen soll?”

 

Freidemokratisch

Ute lächelte, musste aber auch Luft holen, bevor sie ihre Erklärung präsentierte:

“Wir SprachlehrerInnen sind ja das tragende Element des Konstrukts “Sprachschule”, und deshalb führt das in der Frankfurter Fressgass’ gelegene Institut auch, seit die Geschäftsführung gewechselt hat, regelmäßige Qualitätskontrollen durch. Alltagstexte, Wirtschaftstexte, politische Einschätzungen, manchmal auch Humor oder Satire sollen wir mal in die eine, mal in die andere Richtung übersetzen.

Und neulich bin ich gescheitert, bei Deutsch-Englisch. Es ging nicht, ich war blockiert, der Text war unübersetzbar:

>>Deshalb kann man nur hoffen, daß die Tendenz zu einer höheren Politisierung unserer Bevölkerung als Erwachen der zulange geschwiegen und still erduldet habenden Masse der Gesellschaft gewertet werden kann und diese nun mehrheitlich gewillt ist, die Parteien vor sich herzutreiben und kritisch zu verfolgen, so daß es ihnen fürderhin nicht mehr möglich sein wird, unbehelligt in ihrem eigenen Saft im Elfenbeinturm zu ihrem Nutzen und Frommen vor sich hinzuschmoren.<< (*)

Daraus, dass ich hier bei der Übersetzung kapitulieren musste, hat sich dann die Kündigung ergeben…”

Ute war nicht Willens, weiterzusprechen, pausierte hartnäckig, und Annelie hakte nach: “Jetzt sei mal ehrlich – neulich in der Bar hast Du doch noch etwas Anderes erzählt!” Ute schwieg weiterhin, und ich postete in der Zwischenzeit ein weiteres Lebensmittelfoto -
“Chili con carne auf Wirsingblatt mit gebratenen Champignons”
.

Jetzt musste Ute lachen und erklärte:

“Vielleicht darf ich ja ehrlich sein – und ehrlich gesagt, war die Story mit der Übersetzung erfunden, gut erfunden, hoffe ich, denn es gibt ja auch Fälle, in denen ich nicht so offen erzählen kann, dass ich als verdeckte Ermittlerin für Friedrich Ebert arbeite.

Außerdem ist der Text in einem derart merkwürdigen Deutsch verfasst, dass ich ihn mir als Negativbeispiel herauskopiert hatte – und Ihr seid überhaupt nicht darauf eingegangen, wie schlecht verständlich er doch ist.

Soll heißen, die Portionsdiät-Rezeptfotos haben in meinen Augen auch manchmal etwas Komisches, schlecht verständliches.”

Ich schlug vor, die Bilder gar nicht weiter zu beachten, oder sie als “kurios” und “zeitweise polarisierend” zu bezeichnen und dabei stets die Verbindung zu gewachsenen Gewohnheiten im Auge zu behalten.

 

Darauf, warum Lebensmittelfotos heutzutage so einer Inflation unterliegen und eigentlich komisch wirken müssen, wollte ich jetzt nicht eingehen.

 

“Klar, das kann ich gerne machen. Ich hab’ halt nicht so diesen Bezug zum Essen wie Ihr, brauche nur kleine Portionen, habe nicht so viel Appetit und bin mit wenig zufrieden. Aber glaubt mir, dieses Untergewicht hat mir schon große Sorgen bereitet – vor allem beim Klamottenkauf, aber auch mit einer Umwelt, die mich automatisch als anorektisch, psychisch krank und gestört ansieht. Dabei halte ich bloß die Figur meiner Jugendjahre…”.

Meine Frage, ob man sie als Kind mal zum Aufpäppeln an die See geschickt hätte, bejahte sie, und hatte auch im Speisesaal eine Freundin am gleichen Tisch,  die Ute abnahm, was diese nicht essen wollte – die Freundin war, weil zu pummelig, auf Schmalkost gesetzt worden.

Annelie murmelte etwas von “systemischer, institutioneller Verlogenheit” – “Und das schon seit Ewigkeiten!” ergänzte Ute. “Man möchte sie alle einpacken und einem Ungeheuer zum Fraß vorwerfen” war mein Beitrag, weil ich schon etwas eingewickelt hatte:

Effekthascherei

Ich betonte, dass nicht nur meine Kitchen-Fiction eine neuartige Literaturgattung sei, sondern auch abgezogener Rhabarber eine neuartige Schnürung für Rouladen:

“”Klappern gehört zum Handwerk” – das ist doch überall so, wenn auch der Stil, seine Asse aufzuheben, bis es zum Stich kommt, auch nicht verkehrt ist. Aber, Hey, was soll’s, ich spiele sie einfach aus – natürlich mit Euch am allerliebsten!”

Annelie fand, mit einer neuartigen Literaturgattung sei ich auf jeden Fall besser bedient als mit einer neuartigen Literaturgattin -

“Ich als freischaffende Soziologin hatte ja das unverschämte Glück, im Fußballstadion einflussreiche Auftraggeber zu finden – Anschlussaufträge gibt es dann eigentlich immer”,

und Ute musste sich wenig Mühe geben, ihr Klientel zu finden, das kam über das Institut -

“… und gelegentlich war einer dabei, dem mein Erziehungsstil derart imponierte, dass er mir seine ideelle und materielle Unterstützung unbedingt zukommen lassen wollte – da sagen die allerwenigsten Frauen “Nein”".

“Wenn das so ist, kann ich Dich vieleicht als Informandin gewinnen, als Gegenleistung könnte ich Dir einen Hartz-Q-Praktikumsplatz in der Rezeptentwicklung anbieten?”

fragte ich Ute, die fühlte sich beim Stichwort “Informandin” an eine ZDF-Serie erinnert -

kalter Krieg, Ost-West, Spionage, Verführung:

“… die Zeiten ändern sich, aber immer noch wird die Manipulation von Beziehungen als “staatstragendes Erfordernis” praktiziert, wird mit gespaltener Zunge argumentiert und menschliches Glück als politisches Pfand gehandelt – das mal als Vorabinformation. Wegen dem Praktikum – das müssten wir noch verhandeln”,

meinte Ute, und, wie ich schon erwartet hatte, fragte Annelie auch schon, wie es denn mit einem frischen Tee sei…

 

 

Liebe LeserInnen,

mit Annelie Schmidtchens Forschungsberichten zu Gesellschaft und Leiblichkeit schlagen wir ein neues Format der Diät-Unterhaltung auf und  begründen eine neue Literaturgattung:

Kitchen-Fiction mit A. Schmidtchen

Das Essen ist die Religion des kleinen Mannes, der Kitt der Gesellschaft und das Agens, das Leib und Seele zusammenhält.

Mag auch die Brotlaibfeindliche anti-Kohlenhydratsekte in ihrer Eiweißabhängigkeit vor sich hinschmoren – hier gibt es konfessionell ungebundene Super-Rezepte zum Abnehmen, garnierte Geschichten, die sich um Lebensmittelklarheit und -Aufklärung ranken, unter dem Banner des Selbstbestimmungsrechts auf dem eigenen Teller.

Die bisher erschienen “Kitchenfiction mit Annelie Schmidtchen”-Beiträge  stehen noch kurze Zeit zum Nachlesen bereit, aber das Beste ist: Die Artikelserie wird fortgesetzt!

Verwandte Artikel::

Hinterlasse eine Antwort

Pflichtfelder sind mit * markiert.

*