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Die Fettleibigkeit als politische Krankheit

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Adipositas hat unbedingt und zweifellos etwas mit gesellschaftlichen Veränderungen zu tun – die Zeiten ändern sich, und mit ihnen die zivilisations-Krankheiten. Und, selbst, wenn wir durchschnittlich älter werden als vor 200 Jahren, haben sich überflüssige, vermeidbare Krankheiten herausgebildet, nicht alles, was modern ist, ist ein Fortschritt…

Diese “Frau im Spiegel” gehört zu einem Kunst-Projekt, mit dem die Deutsche Angestellten-Krankenkasse (DAK), Deutschlands drittgrößte Krankenkasse, einige der mit Adipositas verbundenen Probleme illustrieren will, und eine Studie zur Prävention dieser Krankheit wurde dort auch vorgestellt, nebst entsprechenden Forderungen nach mehr und besserer Behandlung der Patienten, die am Übergewicht leiden.

 

“Wir müssen umdenken bei Adipositas”

Immer mehr Menschen sind fettleibig und das Gesundheitssystem bekommt das Problem nicht in den Griff. Deswegen fordert die Krankenkasse DAK neue Wege bei der Behandlung von Adipositas.

“Natürlich” geht es hier um Kosten, ums schnöde Geld, und die Meldung geistert durch die Medien, hier beim SWR,  merkwürdigerweise hatte auch Greenpeace den Text in seinem Repertoire – ob die Hamburger Organisation demnächst Zuckerfabriken blockieren will?

Die DAK will Zielvereinbarungen und vierteljährliche Konsultation eines kompetenten Arztes, zusätzlich noch eine “Ernährungstherapeutische Beratung (oder Schulung?) für Patienten, die einen bestimmten BMI überschreiten…

 

Jetzt werden Ziele vereinbart!

Ich denke, da helfen auch keine Zielvereinbarungen. Die werden vielleicht getroffen, sind aber nicht zu überwachen – sicher, das Resultat lässt sich einmal im Quartal begutachten, aber was, wenn die Klienten einfach nicht abnehmen?
Soll man sie dann in ein Abnehmcamp schicken, oder warten, bis sie reif für die Magenoperation sind? Will man sie zunächst einmal als “nicht therapierbar” einstufen, was in der Pädagogik ja seine Entsprechung im “schwer erziehbar” hatte?

 

    • Was genau soll denn das Curriculum der ärztlichen Begleitung beinhalten, und wie soll das mit einer Sitzung im Quartal vermittelt werden? Dazu noch ein wenig Ernährungstherapie – mit welchem “Stundenplan”, bitte? Wer bildet den “Facharzt für Adipositas” aus,
      • muss es sich unbedingt um einen Mediziner handeln, kann da nicht auch ein Pädagoge oder ein Psychologe intervenieren, und
      • wie steht es um die Rolle der Selbsthilfe, der (selbst?)-organisierten “reformierten Ernährungsumstellung, und um
      • die Sozialkontakte, die nicht in die Fett-Zucker-Dickmacherfalle führen?

Diese nette Bildidee ist leider auch nur eine Idee, mehr eingebildete als wirkliche Möglichkeit – der schlanke, wohlgeformte Körper, der sich aus der “fetten Hülle” meißeln lässt und nach ein paar Stunden “Ballast abwerfen” befreit und erleichtert durch die Landschaft springt ist nur Illusion und Wunschdenken – das überflüssige Material abzutragen ist schwer, denn

abnehmen-gewichtsreduktion ist weniger ein marathon, sondern eher ein Hürdenlauf in einem labyrinth

 

  • Und wenn in der Zielvereinbarung die Einhaltung präziser Regeln vereinbart wird – um welche Regeln könnte es sich genau handeln? Sicher, die meisten Menschen fühlen sich an Verträge, die sie geschlossen haben, gebunden. Aber hier, wo wir in der Nähe von suchtähnlichen Phänomenen “navigieren”, sind die Verhältnisse nicht mehr so klar und deutlich, einfach, weil so viele Versuchungen lauern. Nur ein Odysseues konnte die “Gefährten” von den Lotophagen losreißen.
  • Was ist mit der Prävention? Immerhin wagt die Studie mal einen Blick auf die Langzeitwirkung ihrer Ergebnisse, rechnet mal 20 Jahre weiter.
  • Was aber, wenn man heute anfinge, Prävention schon in der Schule zu betreiben, Werbung zu beschränken, wo es sich um Zuckerkram handelt, Autonomie im Umgang mit Lebensmitteln fördert: Hauswirtschaft könnte zum gesundheitspolitischen Zauberwort werden.

Das klingt vielleicht altmodisch und altbacken, aber: Wollen wir es denn so extrem modern, dass es nur noch industriell aufbereitete Nahrung gibt, mit allen möglichen unkalkulierbaren Zusatzstoffen, verkocht, geschönt und künstlich aromatisiert?

  • Natürlich brauchen wir das Schulfach “Ernährung” und die sinnliche Erfahrung, was Nahrungszubereitung bedeutet. Wer keine Kartoffeln schälen kann, hat von der Knolle nichts begriffen, wer nie eine Kartoffel gesetzt und ausgegraben hat, kann auch gleich Kartoffeln aus dem Glas nehmen.
  • Küchenarbeit ist im Zeitalter von Multicooker, Standmixer und Spülmaschine ohnehin kaum noch anstrengende körperliche Arbeit, sondern Organisation, Anwendung von Wissen, Entwicklung von Intuition. Vielleicht haben wir auch bald den Küchenroboter, der die Karotte und den Sellerie nicht nur raspelt, sondern auch wäscht und putzt?
    Sollen wir dann, ein paar Jahre später, der künstlichen Intelligenz des Haushaltsroboters die Entscheidung “Was wollen wir heute essen?” überlassen?

Symbolbild Gemeinschaftsverpflegung

Die Zeiten ändern sich – und wir haben es in der Hand, mitzuentscheiden, wohin sie sich ändern. Wir könnten noch sozialer leben, als wir das tun. Während die Familien sich fragmentieren, sollten wir deren Mitglieder nicht isolieren, sondern zum Beispiel die Schüler  zur Zusammenarbeit anhalten.
Damit bekommen Schulkantine und betriebliche Gemeinschaftsverpflegung völlig neue Aufgaben, weit über eine gesunde Sättigung hinausgehend:

Auch Rentner und Arbeitslose brauchen die Möglichkeit, an einer sozialen Verpflegung teilzunehmen, die ihren Bedürfnissen entspricht: Wo das Singledasein nicht direkt die freiwillige Lebensform der Wahl ist, ist es eine unmenschliche Zumutung und Überforderung, im Single-Haushalt eine befriedigende Verpflegung zu organisieren.

Die oben angesprochenen Fragen der “Ernährungstherapie” sind nicht nur für die Menschen mit den schweren Fettpolstern relevant:
Es geht hier nicht nur um eine “Therapie”, die Wissen und Verhaltensformen vermittelt, sondern auch um eine “Erziehung zum Nein-Sagen-Können”, vielleicht eine “Nacherziehung” für Erwachsene, die Vorbild sein wollen, aber nicht sind, um eine “Erziehung zur Mündigkeit”, wie man das Ziel dereinst mal formuliert hatte.

 

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