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Sündenfall Appetit, verstörte Frauen, und die passende Beratung

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Ein Interview mit Udo Pollmer, veröffentlicht in der ZEIT, findet starken Zuspruch. Da geht es darum, dass Dünne gar nicht mit essen aufhören können, weil sie keine isolierende Speckschicht haben, und Dicke, weil sie eine Speckschicht haben, gar nicht viel zu essen bräuchten. Da werde ich, ohne es zu wollen, auch polemisch.

Der Artikel ist fein untergliedert in die Kapitel


Seite 1 “Der Appetit ist die moderne Erbsünde”
Seite 2 “Ernährungsberatung dient dazu, Frauen zu destabilisieren”
Seite 3 “Pauschal erteilte Ratschläge gehen immer ins Auge”

Wie sind eigentlich keine Vegetarier, weil wir das Gras nicht verwerten können und deshalb die Kuh essen müssen, weil die das kann.
Diäten sind Quatsch und wir haben sie nur, weil Martin Luther sinnenfeindlich war oder die Frauen einem Ideal hinterherhungern, das ihnen die Mode-Industrie aufgeschwatzt hat.
Salz können wir essen, so viel wir wollen, weil das macht Durst und Trinken schwemmt das Salz wieder aus. Diäten sind  überflüssig;

“Auch stark Übergewichtige brauchen keine Diät sondern eine Differenzialdiagnose.”

Das wird so sein, denn bei stark Übergewichtigen gibt es meist noch ein paar Komorbiditäten oder Begleiterkrankungen, volkstümlich gesagt: “Manche haben Läuse und Flöhe”.
Was nach der “Differentialdiagnose”, die öfters auch mal das Übergewicht als Folgesymptom einer psychischen Disposition erklären wird, kommt, ist dann nicht die Diät, schon gar nicht, wenn diese krank macht, oder “nur” eine Essstörung (mit der ein Lebensmittelchemiker nichts am Hut hat) maskiert.
Oder es ist doch die Diät, die Bemühung um einen gesunden, ausgeglichenen Lebensstil (das war im klassischen Verständnis der alten Griechen die Dieata), verbunden mit dem intensiven Kampf gegen die eigentliche Krankheitsursache, sei das ein psychisches Defizit(*), eine Hormonstörung oder Stress, was ja ein weites Feld sein kann…

Es gibt die Ansicht

“Fett ist Geschmacksträger, was viel Fett hat schmeckt gut, Zucker gefällt den meisten Leuten auch, und wenn man dann viel davon zu sich nimmt, nimmt man auch viele kcal zu sich.”

Dem kann man kaum widersprechen; sollte dabei aber auch sehen, dass der Fettanteil bei Fertiggerichten von der Industrie vorgegeben wird, und, wo er reduziert ist, durch Zucker substituiert ist.
Der Mensch ist möglicherweise nicht dazu geschaffen, nach dem Lustprinzip zu essen – die eiserne Regel “Genug ist genug” wird schon einmal verletzt, wenn psychologische, narzisstische Bedürfnisse etwa ersatzweise mit dem, was sich findet – zuallererst ist das für Betroffene Essen und Naschkrams – gestillt werden.

Esst doch, was ihr wollt?

Zudem sind die Portionen über die Jahre immer größer geworden – das gilt für die Angaben im Kochbuch wie für abgepackte Lebensmittel, und der Mensch ist, von Ausnahemn abgesehen, darauf konditioniert, den Teller leer zu essen.
Angeboren ist ein Automatismus:  Sich mit Anderen zu identifizieren. Auf dieser Schiene funktioniert Werbung: Glückliche Kinder essen Schokolade von glücklichen Kühen und sind Vorbild für mehr oder weniger glückliche Kinder, die dieses Glück auch für sich wollen, und beim Burger-Bräter eine Pappkrone geschenkt bekommen, zum Spielen. Die Rechnung, den Spieltrieb auszunutzen, geht offensichtlich auf und die Familie in den Konsumtempel: Da ist die These: “Der Körper verlangt von sich aus, auf natürlichem Wege, was er braucht” nicht mehr viel wert, wenn das Bedürfnis, “King” zu sein, so ausgenutzt wird.

So viel zum “Fett”: Fette Lügen beherrschen uns, wirken aus dem Unterbewusstsein.

Zum Zucker:

Zucker ist eben kein natürliches Lebensmittel, sondern ein aus natürlichen Produkten angereichertes – so wie Schnaps konzentrierter ist als Bier und Wein und für Ausnahmefälle reserviert sein müsste.

Die Kabarett-Nummer des Herrn Pollmer zeugt nun insgesamt nicht von viel Weitblick, besonders wenig bei der Frage des Fleischkonsums: So verwahrt er sich gegen die Veganer, die mit Spaß an der Sache anderen ein schlechtes Gewissen machen, denkt aber nicht nach über die Frage, wie die Ernährung der Weltbevölkerung gestaltet werden soll: Auf einem Luxus-Niveau wie im Westen ist das jedenfalls gar nicht möglich.

Zucker - hier Roh-Rohrzucker, der erkennbar noch Mineralstoffe enthält - kommt in reiner Form in der Natur nicht vor

P. schimpft zwar – teils wieder mal zu Recht – über die Ernährungsberatung, betreibt aber selbst eine nihilistische Bevormundung: Salat ist bei ihm so viel wert wie ein Papiertaschentuch. Mögliche Ursache: Er bekommt das mit dem Dressing nicht so hin…

“Der Mensch ist ein Coctivor – er ist auf zubereitete, leicht verdauliche Kost angewiesen.”

Mit dieser These kommt Pollmer aufgrund quantitativer Betrachtungen von Darm und Gehirn bei Menschen und Primaten  hervor, vergisst dabei, das Darmhirn zu erwähnen und suggeriert, die Pizza sei gesünder für das Kind als der Apfel.
Dass auch  Beides kombiniert werden kann wird hier auch vergessen. Mein Lieblings-Schulbrot war in der zweiten Klasse: Leberwurstbrot + ein säuerlicher Apfel…

Ein Defizit leistet er sich auch, wenn er die Rolle der Fermentation außen vor lässt; insofern ist hier mit einer Artikel-Serie “Fermentierte Lebensmittel” eine Fortsetzung angedacht. Über Joghurt erfahren wir (nicht bei Pollmer):

In our prospective study, high yogurt intake was significantly associated with decreased CRC risk, suggesting that yogurt should be part of a diet to prevent the disease. Investigation of larger cohorts is necessary to reveal any residual confounding of the association of yogurt intake with CRC risk. (Quelle)

Ich finde, für engagierte Laien ist es ziemlich schwierig, sich die vorhandenen Quellen zu erschließen und deren Relevanz zu beurteilen. Man kann nicht einfach einen bestimmten Experten für glaubhaft halten und hoffen, dass er schon die ganze Wahrheit sagen wird.

Obst und Gemüse

Pollmer betont auch immer wieder gern, dass Obst und Gemüse nicht vor Krebs schützen würden, diesen Beweis konnte zum Beispiel die große europäische Studie “European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition (EPIC)” nicht erbringen (hier nachzulesen). Auch die DGE mit ihrer “5-am-Tag-Kampagne” kann nur zugeben: “Einen unmittelbaren Nachweis, dass eine Intervention mit Gemüse und Obst das Risiko für Krebs oder auch andere chronische Erkrankungen senkt, gibt es derzeitig nicht.”. Komsich nur, dass andere Wissenschaftler und die Krebsforschung das irgendwie anders sehen…. Nicht alles, was Pollmer vor sich hin hyperbelt, muss für bare Münze genommen werden sondern dient vor allem als rhetorisches Schmückwerk. (Quelle)

Hier ist vieles Interpretationssache. Gibt es für einen Sachverhalt keinen unmittelbaren Beweis, ist der Sachverhalt nicht unmittelbar – aber möglicherweise mittelbar, indirekt bewiesen. Auch bei den formulierten Studienergebnissen, die manchmal absichtlich vage formuliert sind, ist es nicht angemessen, eindeutige Aussagen herausdestillieren zu wollen. Wenn Obst und Gemüse auch nicht hundertprozentig vor Krebs schützen kann, beugt es wohl zumindest der Verstopfung vor.

Weil es immer noch um die Möglichkeit, trotz aller breit gestreuten Zweifel doch noch etwas vom Übergewicht wegzunehmen, geht:

Wir können Obst und Gemüse auch ganz pragmatisch als Sattmacher und mithin “Schlankmacher” verwenden; die These: “Einmal Pykniker, immer Pykniker” ist jedenfalls nicht haltbar, ich halte nichts von diesem Fatalismus und bin nach wie vor davon überzeugt, dass die Portionsdiät eine realistische Möglichkeit (und/oder Hilfe), abzunehmen darstellt.

Nachtrag:

Bei diesem Beitrag finden wir noch eine Passage, in der Pollmer sich als Kritiker de Lebensmittelindustrie (halbwegs?) bewährt:

Komplexe Chemie, Werbewelten und gekaufte Experten, sie alle lassen sich nicht gerne in den Topf gucken, bei dem was sie uns auftischen.Udo Pollmer sagt: “Hätten die Menschen eine halbwegs klare Vorstellung von der Lebensmittelproduktion, würde eine Werbung, in der ihnen erzählt wird, dass Mönche im Keller mit eigenen Händen einen Käse fertigen, den auf einen Eselskarren verladen, um ihn zum nächsten Discounter zu bringen, damit er dort für wenige Cent verkauft werden kann, sie alle lauthals zum Lachen bringen.”

Unangenehme Wahrheiten werden runtergespielt
Manchmal hört der Spaß auf, wenn unangenehme Wahrheiten zum Vorschein kommen. Ende der 1990er Jahre warnte der Toxikologe Hermann Kruse von der Uni Kiel im ZDF-Mittagsmagazin vor dem Zuckerersatzstoff Aspartam. Eine halbe Stunde nach der Sendung meldete sich eine Anwaltskanzlei und der Hersteller verklagte ihn. Kruse gewann zwar den Prozess, aber Aspartam, in rund 6000 Produkten zu finden, landet weiter in unseren Einkaufskörben. Kein Wunder, denn zuckerfrei gilt ja allgemein als gesund. Ein Verwirrspiel, bei dem man nicht mehr weiß, was gut und was schädlich ist.

“Bei vielen Sachen wissen wir es sogar, aber es wird nichts dagegen unternommen. Ein Beispiel sind die ganzen Diätprodukte. Wir wissen, dass die Süßstoffe in den Produkten das Körpergewicht der Menschen in unnatürlicher Weise erhöhen”, so Udo Pollmer. “Wir wissen ganz genau, dass Dinge, die gerade als besonders gesund beworben werden, von Nachteil sind.”

Der Trend: "Ohne Diät". Trotz des Trends kann Diät sinnvoll sein.

Das Zitat stamt aus einem Fernsehbeitrag “Desinformation als Prinzip“. Der Witz, dass Pollmer mit seiner Salatlüge selbst Desinformation betreibt, gehört zum Geschäftsprinzip. Und die Medien bauen ihn als Guru auf, weil diese Methode die Journalisten davon befreit, selbst langwierige Recherchen zu betreiben. Man lässt die widersprüchlichen Aussagen “Pauschal erteilte Ratschläge gehen immer ins Auge” und “Auch stark Übergewichtige brauchen keine Diät …” nebeneinander stehen und beruhigt sich mit der ausstehenden “Differenzialdiagnose”, ohne genauer nachzufragen, was letztere bringen soll – und welche Diät dann die richtige und unumgänglich ist. Ansonsten mögen die Allzu-Dicken sich um eine Magen-OP bewerben…

Weil Pollmer keine Diät durchhalten kann, empfiehlt er keine, und verklärt seinen Verzicht “wissenschaftlich”. Wem ist damit geholfen?

 

 

 

 

 

 

(*) Mangel an Selbstvertrauen, gesellschaftlicher Integration, haltenden, nahen Beziehungen, sinnvollen Aufgaben oder Interessen, Selbsthass, das Gefühl, in einem hässlichen Körper zu leben, chronische Unzufriedenheit, Depressionen…

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