Neulich wollte ich einen Brief frankieren, und war erstaunt, dass das Porto schon wieder erhöht worden ist, bekam auch eine Antwort auf meine “WARUM”-Frage: “Das ist halt der Post-Kapitalismus”.
In Wirklichkeit habe ich allerdings zwei Szenen übereinander montiert; “Postkapitalismus” ist hier kürzlich auch wirklich aufgetaucht, im Zusammenhang mit einer Buchbesprechung, die inhaltlich in einem Abnehm-Handbuch nicht unbedingt etwas verloren hat – wenn es auch ein paar Zusammenhänge gibt:
Der Kapitalismus ist den Kinderschuhen entwachsen, erwachsen, “ausgewachsen”, und damit wird er nicht mehr viel zulegen können. Ältere Theorien hatten besagt, dass diese Wirtschaftsform in ihrem Endstadium “kollabieren” muss, hatten aber nicht vorhergesehen, dass kaputte Firmen heute notfalls staatlich, (also mit Steuergeldern, die eigentlich für Anderes gebraucht würden) “gerettet” werden, damit sie nicht die Gesellschaft mit in den Abgrund hineinziehen – das kann so sein, das kann auch anders sein.
Fakt ist und bleibt: Wir haben Wirtschaftskrisen, die sich gewaschen haben, weite Teile der Bevölkerung sind so oder so fehlernährt, ein privilegierter Teil der Bevölkerung hat viele Gelegenheitenfür schöne Genüsse, andere, Ärmere, weniger, und die sterben früher, leben aber durchschnittlich länger als die Armen in Entwicklungsländern.
Ich bin auch überzeugt, dass die Weimarer Wirtschaftsverhältnisse die Bevölkerung massiv aus der Ruhe gebracht, derart erschüttert und verunsichert hatten, dass die “nationalsozialistische Wandlung” einsetzen konnte; an der Macht hielt man sich dann mittels Kriegsrecht, nachdem die “guten (aber nicht organisierten und machtlosen) Geister” das Land verlassen hatten.
So haben schon viele Generationen vor uns ihre Erfahrungen gemacht – und “Erfahrung machen” wirkt sich auf den Menschen aus wie der Prägestock auf den Münz-Rohling: Bilder werden nicht nur aufgestempelt, sondern unwiderruflich “eingegeben” und weitergegeben, während die Gesellschaft sich ändert, weil die Technik sich ändert, die Produktivität sich erhöht: Vor hundert Jahren wurde nicht deshalb weniger Fleisch verzehrt, weil die Bevölkerung kein Fleisch mochte, sondern, weil es nicht mehr gab.
Jedem sein Königreich! Oder wenigstens ein Fürstentum, einen Kleinstaat…
Insofern ist es eine längere Geschichte, wie wir geworden sind, wie und was wir sind, und gesellschaftliche Einflüsse sind nicht nur prägend, sondern viel wirksamer, als wir glauben.
Nach Norbert Elias, an den ich am Ende des Artikels über den “Postkapitalismus” erinnert hatte, hatte übrigens die Oberschicht der feudalen Zeiten für die späteren Bürger eine Vorbildfunktion – auch die Bürger und Beamten wollten und wollen vornehm leben, und daran hat sich nichts geändert, ein Auto hat heute mehr als hundert PS zu haben, Understatement wird als “prollihaft” missinterpretiert. Oder auch: Der 2CV wird nicht mehr gebaut, weil eine zweispännige Kutsche nicht mehr gut genug ist – im übertragenen Sinne.
Im Garten dominiert der vornehme englische Rasen, der Krach der Rasenmäher wird toleriert, denn das Geräusch ist deutsche Leitkultur geworden – und Gemüse im Vorgarten ist tabu…
Um zu bestimmen, wie der Mensch geworden ist, wie er ist, muss die Wissenschaft die Biologie, Ökonomie, Psychologie und die Soziologie bemühen – mindestens, meinte Elias, und sollte dabei noch berücksichtigen, dass, was sie bei dieser Frage bestimmen will, sich immer noch prozesshaft entwickelt; es geht um “Individuum und Gesellschaft” – wobei das Individuum als Solches (oder als Begriff) erst mit der zunehmenden Arbeitsteilung, die den Einzelnen aus der Sippe, der früheren Gemeinschaft “herausgebrochen” hatte, entstanden ist – mit der Tendenz zur Isolation und Vereinsamung, zu wechselnder, nur noch befristeter Gruppenzugehörigkeit.
Um Fußballfan zu werden, braucht es bloß eine ungestimmte Gefühls-Grundlage, und schon hat man Freund- und Feindbilder, Zugehörigkeit, Begeisterung über ein paar Törchen und den permanenten Blick auf die Liga-Tabelle, also den permanenten Wettbewerb.
Die Funktion der Familie hat sich damit erledigt, Erziehung soll der Staat leisten, was mittlerweile nicht nach pädagogischen, sondern betriebsorganisatorischen Maßstäben gemanagt wird, und wer sich als “Pädagoge” outet, kann mit sehr, sehr vielen schlechten “Pauker”- Erfahrungen des Gegenübers konfrontiert werden, für die er gleich mal mitverantwortlich erachtet wird.
Das heißt, dass mir schon mal unterstellt wurde, ich wollte Leute belehren, erziehen, wie ein Guru manipulieren – in einer Zeit, als ich lediglich Fragen gestellt hatte, den Diäten-Wahnsinn erst zu hinterfragen begonnen hatte.
Der gemeine Bürger identifiziert sich mit den feudalen Damen und Herren, wird zum Höfling oder Funktionär in Firma oder Staatsverwaltung, oder ganz modern zum Schmied des eigenen Glücks, zum selbständigen Dienstleister, zum Beispiel in Sachen “Diätberatung”.
Neue Zeiten – und mehr Scham, als man glaubt
Global geht es seit den 80-er Jahren bergauf – mit dem Übergewicht. Niemand weiß genau, warum; weil hier aber biologische, ökonomische, psychologische und soziologische Faktoren zusammenwirken, es sich also um komplexe Zusammenhänge handelt, wäre auch das Wissen um das “Warum und Weshalb” nicht leicht zu vermitteln.
Andererseits:
Soziologisch-ökonomisch aber ist der moderne Mensch gehalten, sich selbst zu steuern. In der Produktion ist es nicht mehr der Takt des Bands, der den Arbeitsprozess bestimmt, gefragt ist eigenverantwortliches Handeln, oder die verantwortliche Arbeitsgruppe, die auch mal einen gewissen Gruppenzwang ausüben soll und darf.
Zivilisation & Postkapitalismus
Um den “Prozess der Zivilisation” noch einmal zusammenzufassen:
Ausgehend vom “Urmenschen”, der in Horden und Stämmen lebte, die sich gegenseitig bejagt haben, bildete der Feudalismus größere Strukturen, die im Kapitalismus weiterwachsen (Beispiel EU), und beim Kapitalismus muss es nicht bleiben, schon jetzt gibt es in vielen Sektoren “postkapitalistische” Strukturen.
Neue Zeiten erfordern neue Strukturen, ein Umdenken allemal, und “Wer soll die neue Welt bauen?” – aber auch: Was ist mit dem dementsprechenden “Neuen Menschen“?
Auffällig ist, dass diese Gedanken alle schon gedacht sind, auch festgehalten und “notiert”, aber wenig Einfluss auf aktuele Entscheidungen haben.
Die Kritik, dass es im Gesundheitswesen um die Gesundheit, und nicht um den Profit von Klinik- und Pharmakonzernen gehen muss, liegt auch auf der Hand – wie auch, dass Prävention allemal besser ist als aufwändige Behandlungen. Wer sollte hier die Weichen stellen – und wer die “Präventionsberater” ausbilden?
Es geht, wie gesagt, um nicht weniger als um die Bekämpfung einer internationalen Epidemie, deren Ursachen wahrscheinlich vielfältig sind, die aber einen entscheidenden Zusammenhang mit dem Lebensstil haben.
Für das Übergewicht hingegen ist kein “Wir-Gefühl” vorgesehen, das ist erstaunlich “individuell”.
“Selbst schuld, wenn du zu fett bist”" tönen Manche, und so fühlen sich auch Viele, und, was selten angesprochen wird: Sie schämen sich zudem ihres Unglücks. Wobei das Unglück, nicht in die allseits propagierte Idealfigurschablone zu passen, objektiv ein Glück sein sollte, denn wenn alle Frauen Topmodels wären, würden die Männer durchdrehen, und umgekehrt
In gewisser Weise haben die Unglücklichen zwar “nur” Pech gehabt, zu wenig Trümpfe in ihrem Kartenspiel, dessen Regeln ihnen vielleicht auch nicht so bewusst sind. Das könnte ein Grund zum Traurig-Sein sein, aber kein Grund, sich zu schämen. Nur, wozu die Scham?
- Im Mittelalter gingen Männlein und Weiblein noch gemeinsam uns Badehaus und setzten sich gemeinsam (und fröhlich?) ins Wasser – heute verprüdet man zunehmend; Amerikaner brauchen für die Sauna Badebekleidung.
Da wünsche ich frohes Transpirieren!
Der Punkt soll lediglich belegen, dass “die Scham” mit der Zeit zugenommen hat. Sie, die Scham, ist ein “schwieriger” Affekt mit einer eigenen Logik – neuerdings behaupten Manche, sie sei vermutlich angeboren. Sicher ist so etwas keineswegs, und die Genetik-These lenkt wahrscheinlich mal wieder von erworbenen Bedingungen ab – und davon, dass der Erwerb im gesellschaftlichen Zusammenhang geschah. Oder den Thesen-Erstellern fällt nix g’scheits mehr ein, und “Genetik geht immer”.
Es geht aber auch – im Zusammenhang mit “Erziehung als Prägung des Individuums” die These, dass die Scham anerzogen wurde. Zum Beispiel im Sportunterricht, wenn den “weniger schnellen” (die vielleicht auch ein bisschen mehr Gewicht haben als die Anderen) über die Benotung vermittelt wird, dass sie praktisch unsportlich sind. Haben Sportvereine Ausgrenzungsmechanismen? Sicher. Die Prämien und Preise im Fußball sprechen auch ihre Sprache.
Psychologisch gesehen entsteht Scham im Zusammenhang der “Reinlichkeitserziehung” – einerseits. Andererseits nimmt sie auch das Empfinden der Anderen vorweg, genauer gesagt, ist eine Reaktion auf Annahmen, das Urteil Anderer betreffend.
Sich für einen unperfekten Körper zu schämen, hat System
Heute ist Bewegungs-Tracking angesagt, und die Krankenkassen, die so etwas mit Prämien belohnen, betreiben aktive Bevölkerungsmodulation.
So ist es kein Wunder, dass man/frau perfekt sein will, und schon mal viel Übergewicht sieht, wo es sich um eine absolut tolerable Figur handelt, oder ohne objektiven Grund, vermutlich aus einer Reminiszenz heraus, den Wunsch hegt, “zwei oder drei Kilos weniger” zu haben: Ich könnte mir vorstellen, dass so ein Wunsch am Glücksgefühl nagt – und es sich um Selbstzweifel handelt, die vielleicht tatsächlich auf einem unvorhergehenen Fall von “Pech” beruhen.
Die beschämende Kritik an der Figur aber ist auch erlaubt. Man muss sie jedoch nicht annehmen – weil es ja häufig Funktion der Kritik ist, den anderen zu verletzen, unter dem Vorwand, ihn zu fördern. Das geschieht innerhalb von “Machtkämpfchen” – und hier konstruktive und destrukrtive Kritik zu unterscheiden, ist schon die halbe Miete. Das gilt auch für die “schamhafte Selbstkritik”.
Dabei ist Schönheit vergänglich; jedenfalls hat das das Spieglein an der Wand gesagt…
Die Scham – das ist vielleicht auch der “innere Kritiker”, eine psychische Instanz, deren Äußerungen “alles schlechtmachen” und vor der unqualifizierten Anwendung “höherer Autoritäten” nicht haltmachen – also immer bereit zu einer “kleinen Normierung” oder eben dazu, zu erklären, dass der/die Kritisierte nicht perfekt ist. Oder Schlimmeres.
Scham – ist das Angst, vor den Augen des Gegenübers nicht zu bestehen, oder den Anforderungen des Gottes, oder “der Anderen”, des Gemeinwesens nicht zu genügen, durch ein Raster zu fallen? Übergewichtige werden aktiv beschämt, von innen und von außen. Auch, wenn der eigene Körper nicht mehr mitmachen will und “Beschwerden” aussendet…
Scham und Beschämung – das klebt wie Teer:
Formerly shamed people frequently find themselves suddenly reshamed for the original transgression when they least expect it – when social media hears they’ve got a new job, for instance. We tend to relentlessly define people by the worst mistake they ever made.
Übergewicht – zumal, wenn man deshalb gehänselt wurde – ist ein klarer Anlass, sich zu schämen, und diese Scham wird häufig verdrängt. Weg, beseitigt, ist sie damit natürlich nicht. Wenig tröstlich sind aktuellere soziologische Untersuchungen, die belegen, dass das Übergewicht mit dem sozialen Status (oder “Rang”) zusammenhängt, dass das “Prekariat” zu süß und fettig sich ernähre – das könnte am Warenangebot liegen, aber was ist dann mit den Übergewichtigen aus den “besseren Schichten”?
Der Druck, perfekt zu erscheinen, ist heftig, der Wunsch, idealgewichtig zu sein, nimmt unter diesen Umständen einen defensiven Charakter an und man entfernt sich mehr und mehr von der Selbst-Akzeptanz, kommt der Selbstregulation nicht näher, deren Fehlen doch die “Körperfülle” angeblich belegt.
Ei, kannst du dich denn nicht beherrschen?
Fat-shaming, oder deutsch: Der Brauch, Dicke durch den Dreck zu ziehen, ist alt und immer noch schlimm. Aber er hat zu einer gewissen Gewöhnung geführt – und diese Gewöhnung ans “vertraute Nest” verursacht den Jo-Jo-Effekt, denn “schlank spielt keine Rolle”, wäre mal eine These.
Als Dicker ist man der Arroganz der arroganten Schlanken, die “öfters mal eine ordentliche Portion Sport” empfehlen ausgesetzt – diesem “Blödsinn” zu widerstehen ist einfach. Als schlanker Mensch ist man den Aufdringlichkeiten der food-Werbung ausgesetzt, mehr noch dem Einfluss der besten Hobbyköche und -TortenbäckerInnen der Welt: “Komm, nun zier’ Dich nicht so – das ist auch eine gaanz leichte Torte, probiere also mal ein Stückchen und beleidige mich nicht!”
Als Reflex (an “Reflux” hatte ich bei der Gelegenheit auch gedacht) zum Fat-shaming hätten wir gelegentlich noch die “fat-acceptance“, womit wir vom Schlank-Zwang emanzipiert wären, und
… nur weil Fat Acceptance sagt, dass dick_fett sein nicht gleichzeitig auch bedeutet, dass man auf jeden Fall ungesund ist, heißt das nicht im Gegenzug, dass wir sagen, es ist gesund/gesünder, oder es ist besser, oder es ist die einzig wahre Lösung. Body Acceptance ist für jeden Menschen da, für jeden Körper. Und zur Body wie auch zur Fat Acceptance gehört eben dazu, dass wir lernen, dass uns die Gesundheit von anderen nichts angeht.
“Ungesund sein” ist ein interessanter Ausdruck. Nicht direkt krank, nicht direkt gesund. Sicherlich gibt es Dicke/Fette, denen nichts fehlt, Sicher gibt es auch welche, denen alles Mögliche fehlt. Ich kenne da eine Hausärztin, die nach dem Motto lebt
“Was geht mich die Gesundheit meiner Patienten an? Die sehen sich doch täglich im Spiegel – was muss ich denen dann sagen, dass sie Übergewicht haben?”
Ich denke mal, zum “Körper akzeptieren” gehört, sich um ihn zu kümmern. Sich um sich zu kümmern, und um die, für die man Verantwortung hat. “Mein Fett ist politisch”, “Dein Fett ist politisch”: Das heißt, das Fett hat sich innerhalb einer Gemeinschaft akkumuliert, ist ein gemeinschaftliches Problem.
Noch etwas: Wenn wir eine Formulierung finden wie
Zu XY “…gehört eben dazu, dass wir lernen, dass uns die Gesundheit von anderen nichts angeht
sehen wir ein Beispiel, wie Lernziele festgelegt werden – das heißt, wir haben es mit einer pädagogischen Absichtserklärung zu tun, mit einem besonderen, spezifischen Konzept. Das ist frei von Empathie, frei von (“christlicher”) Nächstenliebe, somit gewissermaßend auch befreiend – aber wegschauen und sich heraushalten kann auch unterlassene Hilfeleistung sein.
Genau genommen, ist auch ein verpfuschte Hilfe keine Hilfe, so in unserem Gesundheits- und Sozialsystem. Es gibt ja noch nicht einmal angemessene Hilfe zur Selbsthilfe – selbst, wenn die vielleicht am Effektivsten wäre. Also, uns könnte es besser gehen, stattdessen sind wir bescheiden, oder bescheiden und begnügen uns. Das könnte auch daran liegen, dass wir zutiefst noch einem “magischen Denken” verfallen sind: Der Himmel könnte uns auf den Kopf fallen, oder die Götter würden uns bestrafen, wenn…
Alle Artikel aus der Serie “Handbuch zum Abnehmen” findest Du im Artikel “Das kleine Handbuch zum Abnehmen”.
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