Am Anfang war Erziehung
“Am Anfang war Erziehung”, anfangs in der Mutter-Kind-Beziehung.
“Fang damit erst gar nicht an” hatte niemand gesagt, als die gute Mutter ihrem Kind beim Abendfläschchen das Loch im Sauger etwas weiter gemacht hat und den Säugling dazu brachte, so viel Kraft-Milch mit Hafer zu trinken, dass es die Nacht durchschlafen würde, zum Beispiel.
Aber Worte hatten wir noch gar nicht, am Anfang, als uns das “richtige” Essverhalten eingeprägt worden war. Deshalb können wir auch nur selten formulieren, was die Erinnerungen an diese vorsprachliche Zeit sind, aber die Ess-Geschwindigkeit, die Erwartungshaltung, das Glück während der Mahlzeit betreffend, die Fähigkeit, Hunger und Frustrationen auszuhalten, die aktive oder passive Haltung, mit der wir unser Essen einfordern und zu uns nehmen, haben sich in dieser wortlosen, aber nicht stimmlosen Zeit gestaltet – wahrscheinlich…
Geduld, Selbstdisziplin und Willensstärke
Walter Mischel
Wer sich beherrschen kann – selbst beherrschen – “… scheint in allen Facetten des Lebens besser abzuschneiden”. So der Befund der psychologischen Forschung. Kein Talent macht so erfolgreich wie Geduld, Selbstdisziplin und Willensstärke.
Für “…die Fähigkeit, seine Bedürfnisse im Hier und Jetzt für einen größeren Nutzen in der Zukunft aufzuschieben…”, gibt es vielleicht keine genetische Disposition, aber die frühe Kindheit scheint ihre Einflüsse zu haben:
“Geduld mag nicht in den Genen liegen, aber womöglich in der Muttermilch. Forscher der Universität Zürich haben nämlich herausgefunden, dass die Stillzeit Einfluss darauf hat, wie geduldig ein Kind später ist. Säuglinge, die sechs Monate lang gestillt wurden, konnten im Alter von fünf und sechs Jahren einer geöffneten Gummibärchentüte eher widerstehen als Altersgenossen, die nur vier Monate die Brust bekommen hatten.”
Klar, dass das Widerstehen gegenüber der süßen Verlockung leichter fällt, wenn das Kind genug humanen Milchzucker aufgenommen hatte – und nicht nur das: Das Wesentliche am gestillt-werden ist wohl die Mutter-Kind-Interaktion, der Aufbau an Beziehungsmustern, Interaktions-Variationen, Intervallen, Vertrauen und Selbstvertrauen.
Verbote sind kontraproduktiv
Insofern ist auch klar, dass Verbote nichts nutzen, und letztlich, wenn denn das Übergewicht tatsächlich mit “mangelnder Selbstkontrolle” (was für ein grausames, entwertendes Urteil…) zusammenhängt, dass eine restriktive Diät, die ja auch mit direkten oder indirekten Verboten arbeitet, scheitern wird.
Von Jean-Jacques Rousseau stammt die Anmerkung, dass Selbstbeherrschung immer groß und schön sein wird, “… übte man sich in ihr auch nur, um eingebildeten Ansichten zu gehorchen”.
Es wäre schön, zu hören, was dieser Philosoph zur heutigen Diätszene zu sagen hätte, vielleicht etwas wie “Einbildung ist auch eine Bildung”, denn eingebildet sind zumindest die heutigen “Promis” und Models, die ihre Haut zu Markte tragen, die schlanken Körper herzeigen, für etwas Geld und Bewunderung das Idol geben.
Mit der Selbstbeherrschung, so sie auf Verboten beruht, kann es aber auch ganz schnell wieder aus sein:
Die nur des Verbotes wegen etwas unterlässt, tut es endlich doch.
Mit Verboten ist also nicht viel zu erreichen…
Während ich diesen Artikel verfasse, ist ein Artikel erschienen, in dem der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan fordert,
“… dass alle Drogen legalisiert werden sollen. “Ich glaube, dass Drogen viele Menschenleben zerstört haben – aber falsche Maßnahmen seitens der Regierungen haben noch viel mehr Elend angerichtet”, schreibt er im Spiegel. Der Krieg gegen Drogen sei wenig erfolgreich gewesen und inzwischen zu einem Krieg gegen den Menschen geworden. … Statt Verbote zu erlassen und Straftaten zu verfolgen, müssten Staaten ihre Bürger aufklären und ihnen Therapien anbieten. Wie Staaten in den vergangenen 50 Jahren mit Drogen umgingen, habe die Nachfrage nicht verändert. Vielmehr hätten sie so “einen internationalen kriminellen Markt geschaffen, der Gewalt, Korruption und Instabilität” erzeuge, schreibt Annan.”
Das Verbot nutzt bei Drogen nicht viel – wie sollte es beim Essen nützlich sein? Bei der Lebensführung? Wenigstens kann man die Werbung für Schadstoffe verbieten, hat sich bis dato aber schwer damit getan, die Werbung für Zigaretten zu verbannen. “Schock-Bilder” werden vielleicht – eher nutzlos – für ein Weiter-Rauchen mit schlechtem Gewissen sorgen…
Wir bewegen uns hier auf ungewohntem Gebiet: Die Rousseau-Zitate entstammen dem Buch “Emil oder über die Erziehung”, die Zeile “Die nur des Verbotes wegen etwas unterlässt, tut es endlich doch” hat Rousseau bei OVID zitiert, der, einfach, weil er über den Dingen stand, kaum ein Verfechter von Verboten gewesen ist. Sinnvoller, wirksamer und hilfreicher wäre es, Sophie (die künftige Partnerin des “Zöglings”) selbst würde den Wert der “Sittsamkeit” (der Mäßigung, der Selbstbeherrschung) erkennen, um sich konsequent sittsam zu verhalten.
Ich werde hier keine Diskussion über Tugend und Sitte anfangen – aber Rousseau empfahl genau das, aus Liebe zur Wahrheit (“… das einfache Bild unserer Modemenschen wird … dieselben verächtlich machen”).
Natürlich findet sich auch hier die Forderung nach “Aufklärung” und Prävention, aber auch schon bei OVID, der allerdings immer wieder schlecht interpretiert und wenig verstanden worden ist. Genauer gesagt: Bei OVID findet die Aufklärung statt – wenn die LeserInnen das Rätsel lösen, das er uns aufgibt, den Text, der den eigenen Schlüssel mitführt, entschlüsseln. Was aber ein eigenes Kapitel für sich wird.
Vieles deckt sich hier mit chiristlichen, “abendländischen” Werten, hat gemeinsame Wurzeln.
Gut. Ich werde mich beherrschen, jetzt nicht thematisch noch weiter abdriften
Viele Menschen leiden fürchterlich, weil sie sich einfach nicht beherrschen können
Nun ja und ja aber, aber so ist das und auch anders herum – denn natürlich können die Meisten sich beherrschen, wissen aber bloß nicht, wie, oder sie könnten nicht, wenn sie nur wollten, sondern besser, wenn sie nicht müssten, oder drücken mit ihrer “Verweigerung” etwas Wichtiges aus, was aber ohne Worte geblieben ist, und vor allem: Zu denken, mit bloßer Selbstbeherrschung wäre alles einfacher: Das dürfte auch ein Gerücht sein.
Kalorien zählen, Essprotokolle ausfüllen – das kann diszipliniert-sein bedeuten, muss aber nicht erfolgreich sein, wegen der Gewohnheit, und zu “Gewohnheit” gehört leider auch der Gedanke: “Ich kann mich halt nicht beherrschen”, und wenn dieser Gedanke davon abhält, die Umstände des Unbeherrscht-Seins zu untersuchen, der Wahrheit näher zu kommen, neue Regeln einzuführen…
Und:
Ein Mensch muss nicht in allen Lebensbereichen gleich diszipliniert sein. Keineswegs. Mancher arbeitet zum Beispiel extrem diszipliniert, hat aber keinerlei Kontrolle, wenn es um Schokolade geht. Oder jemand ist superdiszipliniert im Fitnessstudio, hat aber Riesenprobleme, seine Wohnung in Ordnung zu halten. Es geht auch darum, was mir wichtig ist. … Sie brauchen … ein Ziel, für das Sie brennen, und die Fähigkeit, beharrlich darauf hinzuarbeiten. Nur wenn Sie die besitzen, haben Sie überhaupt eine Wahl. Dann können Sie anders handeln, als es Ihnen das Hot System vorgibt. Nur der Mensch, der sich selbst beherrschen kann, ist frei.
Mit schlechten Angewohnheiten ist MenschIn also unfrei – so unfrei wie ein Krümelmonster, das nicht von seinen Keksen lassen kann.
Aber es gibt Hoffnung: Lösungen hat die psychologische Forschung zwar nicht erfunden, aber protokolliert:
Vorschulkindern wurden vor die Aufgabe gestellt, im Labor, alleine gelassen mit einem Marshmallow auf dem Tisch, zu warten, bis der Versuchsleiter wieder kommt, zu warten, ohne das Marshmallow zu verzehren. Das schafften nicht alle Kinder, aber die, die es schafften, hatte je ihre Lösung gefunden, um mit ihren Impulsen zurecht zu kommen.
Viele Kinder waren sehr fantasievoll, um sich von der Versuchung abzulenken. Sie wussten wie das geht, denn gute Eltern lenken ihre Kinder ab, wenn diese Stress oder Schmerzen haben, sie halten sie, knuddeln sie, um den Stresspegel zu verringern. Kinder, die das kennengelernt haben, versuchen sich in schwierigen Situationen, zu herunterzukühlen, zum Beispiel indem sie ihre Augen schließen, indem sie sich abwenden. Einige stellten sich vor, dass die Süßigkeit vor ihnen nur auf einem Bild zu sehen sei – ich erinnere mich gut an ein Mädchen. Als wir es fragten, wie sie es geschafft hatte zu widerstehen, sagte es: „Man kann ein Bild nicht essen!“ Wir haben in unseren Studien festgestellt, dass Kinder, die ihr heißes Gefühl so abkühlen können, mit großer Wahrscheinlichkeit auch in anderen Situationen dazu in der Lage sind.
Der 85-jährige Walter Mischel, Erfinder des “Marhmallow-Experiments”, verdankt seine Karriere aber letztlich seiner Oma: Die hatte ihn motiviert, “Sitzfleisch” zu entwickeln beim Lernen – das hatte funktioniert.
Hier noch eine Artikel-Empfehlung:
Das Lustprinzip scheint ja eine feine Sache zu sein: Tun, was man will, jetzt und sofort. Aber: Die einfache, die schnelle Lösung – zum Beispiel der “Lust auf Schokolade” sofort zu folgen… |
Und demnächst geht es hier weiter mit dem Abnehm-Handbuch. Themen-Vorschläge wären nett, ein Kommentar oder mehrere – das würde nicht schaden.
Vielleicht ist es ja nicht uninteressant, noch einmal genauer nach den Erziehungs-Einflüssen auf unser Handeln, unsere Weltsicht, unsere Autonomie (und Selbstbeherrschung, Selbstbewusstsein…) nachzuspüren? Ge- und Verbote, Vorbilder (gute und schlechte), Scham & Stolz, notwendige Skills und wie ich sie erlange…
Wir können das natürlich auch auf mehrere Kapitel verteilen
Auf Wiederlesen!
Alle Artikel aus der Serie “Handbuch zum Abnehmen” findest Du im Artikel “Das kleine Handbuch zum Abnehmen”.
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