Annelie Schmidtchen, die Betriebssoziologin, die für die Global Collecting & Entrusting Bank (GCEB) ein Konzept “Nachhaltige, begeisternde Kantine” erarbeitet, hat Ute, die Hartz-Q-Praktikantin mit besonderem Auftrag und mich beim letzten Meeting von Anfang an in Erstaunen versetzt:
“Zeig’ mir Deinen Müll, und ich sge Dir, wer Du bist, eine Stichprobe reicht mir schon…”
“Wenn es der Wahrheitsfindung dient…”,
meinte ich, und holte ein Stück Verpackungsmüll aus dem Sammel-Sack mit dem grünen Pukt.
“Du siehst, der Müll spricht Bände, erzählt, was und wieviel Du isst, im Papiermüll finden sich Hinweise auf Deine Lektüre (und vielleicht darauf, was Du schreibst), wenn ich die Nachbarn befrage, bekomme ich vielleicht Hinweise auf Deinen Charakter, je nachdem, wer wie fragt, kann das auch auf ein Mobbing herauslaufen…”
Ute meinte, das höre sich ja nach Wild-West-Methoden an, nach einer miesen Masche, und
“kein Mensch interessiert sich dafür, was Klaus-Peter isst – und wenn schon, er postet das ja regelmäßig selbst auf seinem Blog; worauf willst Du also hinaus, Annelie?”
Ohne auf Annelies Antwort zu warten, hatte ich, um Utes Worte zu bekräftigen, auch das Lebensmittelfoto zur bereits gezeigten Verpackung auf den Schirm geholt, und Annelie erklärte, sie hätte eine
“Manager-Fallgeschichte mit dem Ex-Vorstandsvositzenden eines Stahlkonzerns, einem Hedge-Fond-Gründer, Privatdetektiven und einer sehr speziellen Soziologie, die sich “ojektiv” nennt, obwohl sie subjektiv sein muss.
Der “Stahlkocher” namens Klaus Kleinfeld hatte mal in D im Siemens-Vorstand gesessen, war einer der wenigen Deutschen, die in den USA so einen Job bekommen haben. Paul Singer hatte den Hedge-Fonds “Elliott Associates” gegründet, “über-anschaulich” ausgedrückt, haben diese “Finanzhaie oder Heuschrecken” die Aktienmehrheit des Stahlkochers Arconic erworben, um ihn auszuschlachten(?), wobei der Vorstand ausgetauscht werden sollte – aber Kleinfeld spielte (zunächst) nicht mit.
Vieleicht hat Singer von der Müllspionage gewusst, vielleicht war Kleinfeld von der Schlammschlacht zermürbt – Kleinfeld hat Singer einen zynisch-ironischen, “bizarren” Brief geschickt, der Brief gelangte an die Öffentlichkeit und wurde gegen Kleinfeld, der damit seinen Job los war, gerichtet. Ein I-Tüpfelchen hierzu kommt aus dem schönen Frankfurt am Main:
“… der Erfinder einer anerkannten Methode zur Interpretation von Texten [schreibt] in der F.A.S. „Kleinfeld macht Singer lächerlich“ … und fragt: „Hat der Briefeschreiber eigentlich noch alle Tassen im Schrank, wenn er diesen Brief schreibt?“
Der Gastautor in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ist Ulrich Oevermann, die “Methode”, die er aus dem Hut gezaubert hat, erklärt alles, was irgendwie mit “Zeichen” zu tun hat und nennt sich “Objektive Hermeneutik”.”
Annelie hatte mich auf eine Idee gebracht, die vielleicht besser ein Anderer – wenn überhaupt – umsetzen sollte: “Die objektive Hermeneutik der Buchweizengrießsuppe”, oder “Tiefenhermeneutik der Buchweizen-Vollkorngrießsuppe” wäre doch ein schönes Thema für Soziologen, fand ich, genauer: fand nur ich, denn Ute rümpfte für den Bruchteil einer Sekunde die Nase, bei Annelie zeichnete sich ein gewisser, entsetzter Gesichtsausdruck ab, und sichtlich angestrengt erklärte sie, die Oevermann-Seminare hätte sie immer “weiträumig umgangen, weil Pseudo-Wissenschaft war nie mein Anliegen”, aber angesichts der aktuellen Veröffentlichung, dieses fahrlässig und verquer zusammengezimmerten Zusammenhangs zwischen “Soziologie” und Finanz-Sphäre, fühle sie sich “doppelt gekränkt”:
“Man könnte also annehmen, mittels der “objektiven Hermeneutik” soll die “geduldige, präzise Schritt-für-Schritt-Untersuchung” (“Ausdeutung des Materials“), bei der auch die Betrachtung der Gegenseite gefordert ist (schließlich haben wir es mit einem Konflikt zwischen verschiedenen Parteien zu tun) zu einer “expliziten Problembestimmung” führen.
Oevermanns Gefälligkeitsgutachten erfüllt demgegenüber die eigenen Anforderungen nicht, überspringt den entscheidenden ersten Schritt, übergeht Kleinfelds Hinweis auf die Konflikt-Dauer (“Seit 18 Monaten”), übergeht die “Natur” der Gegenseite (“Finanzhaie”), kommt zu einer unzulässigen “Diagnose” (“hat nicht mehr alle Tassen im Schrank”), die vorurteilsbehaftet, wie sie ist, den eben nicht umfassenden, sondern einseitigen Charakter der Interpretation, den rein subjektiven Charakter dieser “Hermeneutik” offenbart, die ohne die Darlegung eines Sinnzusammenhangs halt irgendein Essay, aber keine Hermeneutik ist.”
Ute, die Sprachlehrerin, meinte, “Hermeneutik kommt von “Hermes“, was die Wortherkunft oder Etymologie betrifft”, und vermutete, dass Oevermann bei “Hermes” heutzutage als Paketzusteller vielleicht zu Spitzenzeiten, etwa an Weihnachten, noch eine Chance haben könnte, als Aushilfs-Zusteller, oder Knecht Ruprecht, weniger als Hermeneut:
File: Hermes crioforo.jpg – CC BY-SA 3.0 aus Wikipedia-Artikel “Hermes““Ich habe nämlich mal ein Seminar bei einem NLP-Master gemacht, und wir mussten assoziieren, was wir normalerweise gar nicht denken, nicht nur Gedanken und Gefühle frei fließen lassen, sondern uns auch vorstellen, was wir normalerweise nicht zu denken wagen.
Es kommt hinzu, dass Hermes doch auch Schutzheiliger der Diebe war, oder?”
Utes Frage beschäftigte uns nun drei Minuten lang, wir beließen es bei der Feststellung, dass der Hermes-Kult logischerweise kompliziert ist, zumal er, der Götterbote, den Menschen den Logos gebracht hat. “In Ovids Metamorphosen nehmen Philemon und Baucis den unerkannt auf die Erde gestiegenen Mercurius auf”; Merkur-Abbildungen finden sich auf römischen und schwedischen (!) Münzen, und er ist im Wort “Mittwoch” allgegenwärtig, was sich im französischen “mercredi” deutlicher abbildet.
Hermeneutik, als Versuch, etwa einen Text im Sinnzusammenhang zu analysieren, will eigentlich hinter die Kulissen schauen, nimmt das Textobjekt aus unterschiedlichen Perspektiven “allumfassend” wahr, untersucht äußere und innere Strukturen, Bedeutung und Wirkung auf diversen Ebenen, zeitliche Bezüge und Entwicklungen (das “dynamische Element” besagt, dass nichts so bleibt, wie es ist, denn alles ist im Wandel). Hermeneutik riskiert, dass der Forscher in Sackgassen gerät, und wenn er ordnungsgemäß seine Zeit damit “verschwendet”, aus der Stellung eines einzelnen Worts Schlüsse zur Aussagekraft des Textes zu ziehen, riskiert er, als “Haare-Spalter” oder “I-Tüpfelesscheißer” charakterisiert zu werden.
Ich wählte, was den letzten Punkt betrifft, ein halbwegs aktuelles Beispiel:
“Ein auf den ersten Blick völlig logischer Satz, der besagt: “Ursachenbekämpfung bedeutet akzeptable, zukunftsfähige Lebensumstände”. Da ist aber noch dieses “Wenn”, das für eine Bedingung steht; “Was ist, wenn nicht?” Das “Wenn” steht damit auch für die Frage, ob WIR eine Perspektive eröffnen – einige der aus dieser Frage folgenden Implikationen haben wir ja schon besprochen.
Tiefenhermeneutik würde ich auch nicht als “anerkanntes Verfahren” bezeichnen; dafür ist es viel zu aufwändig und ertraglos. Es gibt Texte mit einem derartigen Potential, dass noch die schonende Interpretation denoderdie unbedarfte(n) LeserIn verstören muss, ich habe erfahren müssen, dass bei einer “harmlosen Märcheninterpretation” zwar das Märchen als “interessant” bezeichnet wurde, “man” aber meine eigentliche Arbeit, die Interpretation, ungelesen in die Ablage legte.”
Ute fand, teilweise komme es ihr wie eine Zumutung vor, wenn die “Sprache der Märchen” in die Sprache des rationalen Diskurses übertragen wird “… und jeder Dolmetscher etwas anderes, auf dem “persönlichen Mist Gewachsenes” übersetzt”. Sie zuckte mit den Schultern und stammelte ein störrisches “Weiß nicht”, als Antwort auf die Frage, ob sie meine “Übersetzung” der “Klugen Else” lesen wolle…
Annelie befand, dass ein klares “Nein, Danke, kein Interesse” eigentlich immer eine zulässige Option sei, “… wenn auch häufig derartige literarische Offerten aus vielerlei Gründen, verschlungenen Motiven heraus auf ein ambivalentes Interesse stoßen – und vielleicht beruhigen Dich ja Nietzsches Worte, der uns sicher nicht ohne Grund eine allgemeine Kurzsichtigkeit attestiert hat:”
“Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgend einem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten!”
Friedrich Wilhelm Nietzsche
Das sah auch Ute so, wenn sie auch Viele kennengelernt hatte, die ihre Spiel-Leidenschaft professionell als Aktien-Zocker ausleben -
“… und wenn auch die Pseudo-Spiele der Erwachsenen das freie Spiel im erworbenen Tabu ersticken, gibt es ja noch das Schauspiel, wo die bessere Gesellschaft sich auf der Bühne anschauen kann, was Andere spielen – statt selbst mal ein Zusammenspiel zu wagen, lässt man spielen.”
“Das gilt auch für meine Leidenschaft, den Fußball, bei dem nicht nur das Spiel relevant ist, sondern auch die Feiern davor, dazwischen und danach bedeutsam sind, was den Herrn Singer wohl verleitet haben könnte, einmal im Leben so richtig über die Stränge zu schlagen, in diesem Klima der Masseneuphorie, wie wir es von der WM noch in Erinnerung haben”,
ergänzte Annelie, während ich besorgt war, dass unsere Plaudereien vielleicht allzu wenig mit unserem eigentlichen Arbeitsauftrag zu tun hätten, fand aber einen Kompromiss: Zum Thema “Spielen” meinen Senf hinzugeben und zum eigentlichen Thema zurückkommen.
“Kochen und Spielen haben doch auch einige Gemeinsamkeiten; Hauptdarsteller, hier die Paprika, eine Bühne (den Teller), ein Handlung oder einen Dialog (werden sich Paprika und Nudeln vertragen – und wo stecken die eigentlich?), etwas Schärfe und Hitze, Kosmetik (ohne Kurkuma wäre hier alles viel blasser), der “ausgeschlossene Dritte (das Gericht ist fleischlos) ist auch ein häufiges Motiv, gut ist auch, wenn ungewöhnliche “Persönlichkeiten” (hier: die Zuckererbsen) ins Spiel kommen – ein wenig Spannung dieser oder jener Art sollte dabeisein, und wenn dann noch Hunger und Appetit die Handlung bestimmen…”
Annelie stellte nun (abschließend) fest, dass jeglichem Gemüse seine Rolle im Leben, im Zusammenspiel mit anderen Gewächsen und Getier zukomme, “… und auch, dass Kleinfeld und Singer nur mit Wasser kochen – wobei solche bizarren Charaktere wohl selten in einer Kantine für “Normalsterbliche” aufkreuzen würden, und wir die Entwicklung weg vom Manager-Halbgott hin zum/zur “mehr gleichberechtigten MitarbeiterIn mit Führungsqualitäten” fördern wollen, und schließlich: Was gibt es demokratischeres als den gemeinsamen Genuss einer Kanne Tee?”
Als Ute zustimmend nickte und ich aufstand, um in der Küche den Wasserkocher anzuwerfen, wirkte Annelie Schmidtchen, als sei sie mit sich ind der Welt recht eigentlich zufrieden…
Liebe LeserInnen,
mit Annelie Schmidtchens Studien zu Gesellschaft und Leiblichkeit schlagen wir ein völlig neues Kapitel der Diät-Unterhaltung auf und begründen
Eine neue Literaturgattung:
Kitchen-Fiction mit A. Schmidtchen
Das Essen ist die Religion des kleinen Mannes, der Kitt der Gesellschaft und das Agens, das Leib und Seele zusammenhält.
Die Kantine, als Schmelztiegel der arbeitenden Bevölkerung soll künftig auch Super-Rezepte zum Abnehmen anbieten – deshalb gibt es hier garnierte Geschichten, die sich um Lebensmittelwahrheit und -Aufklärung ranken, unter dem Banner des Selbstbestimmungsrechts auf dem eigenen Teller.
Die bisher erschienen “Kitchenfiction mit Annelie Schmidtchen”-Beiträge stehen noch kurze Zeit zum Nachlesen bereit, aber das Beste ist: Die Artikelserie wird fortgesetzt!