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Handbuch Abnehmen (7): Soziale Rolle und Tiefenwahrnehmung

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Vor Jahren hatte ich einem Freund (und Ex-Volkswirt) das Konzept, bei dem man einfach aufschreibt, was man wovon isst, also portionsweise in eine spezielle Tabelle einträgt, vorgestellt. Ich musste dann recht eindringlich fragen, was er davon hält, bis ich eine Antwort bekam, und die lautete: “Ja, das erscheint plausibel – aber ich kann das nicht”.

Nun ja…

Ein Freund (und Ex-Polizist) dieses Freundes hat im letzten Jahr 10 Kg abgenommen, weil er das gewohnte Bier am Feierabend durch Apfelsaftschorle ersetzt hat – Geht auch, meint er, und das Bier braucht er nicht wirklich, also stellt es auch keinen großen Verzicht dar, und aus sozialen Gründen trinkt er dann in Gesellschaft alkoholfreies Bier. Das Rauchen hat er nach dem gleichen Muster gleich mit eingestellt, und “Soziales Rauchen” praktiziert er nicht.

Ich habe ja auch nie gesagt, dass die Welt die Portionsdiät braucht ;-)

Offenbar ist dieses “Ich kann das nicht” mal unverrückbar und mal wieder nicht. In einer Runde des Nachtcafés jedenfalls drängte sich kürzlich dieser Eindruck auf: Bertram Eisenhauer meinte gar, dass er, nachdem er nun schon sein Leben lang die Rolle des Dicken gehabt hätte, irgendwie durchs Abnehmen seine Identität auf- oder abgeben würde, was ja irgendwie unheimlich, unvorstellbar ist.

Ein anderer hatte 50 Kg abgenommen – als Schauspieler – und kommt mit der “neuen Figur” zu neuen Rollen. Insofern ist Flexibilität gefordert, was “die Rolle” betrifft.

Modell persönlichkeit lowen

Die Rolle betrifft nach dem im vorherigen Artikel gesagten ohnehin “nur” die äußere Schicht der Persönlichkeit, und wer Übung darin hat, kann öfters mal die Rolle wechseln, oder mehrere Rollen spielen.

Vielleicht ist das “Festhalten an der Identität” aber auch nur eine Ausrede, eine “Finte”. Vielleicht handelt es sich zwar um ein Festhalten, aber ein Festhalten an etwas anderem, Tieferem.

Festhalten am “Lieblingsessen” etwa. Festhalten an Gewohnheiten – sowieso.

Festhalten der Haltung gegenüber Essen und Trinken, festhalten am Modus der Befriedigung?
Wenn Essen glücklich macht, macht weniger-Essen weniger glücklich, und so und so satt ist “Glücklich”?

Oder noch eine These könnten wir erwägen, jenseits der Essstörungs-Hypothese: Als ein gefühltes Glücks-Defizit kann sich etwas darstellen, das in der psychoanalytischen Beobachtung als “narzisstisches Defizit” oder “narzißtische Enttäuschung” bezeichnet wird – und die These beinhaltet noch dazu die Annahme, dass andererseits wiederum aus der Selbstbeherrschung eine narzisstische Befriedigung erwachsen kann…

“Wozu Beschränkung, wenn die Konstitution gut ist, die Gene eine stabile Grundlage für eine gute Gesundheit sind?”

Das könnte manchmal eine naheliegende Frage sein, bei der man sich aber auf dünnes Eis begibt.

Mit Übergewicht leben …  kann auch lange gut gehen, die Schäden … stellen sich schleichend, also fast unmerklich ein, die Wahrnehmung verändert sich, und Verdrängungsmechanismen spielen eine zunehmende Rolle.

Bis dem zunehmenden (und abgewehrten) Leidensdruck adäquate Reaktionen folgen, vergeht oft unnötig viel Zeit. (Das war eine kurze Wiederholung aus dem Kapitel “Anfangen“)

Polemische These:

Narzisstisches Defizit oder “einfach nur Essstörung” – ich fürchte, im Hintergrund “lauert” eine multiple Beziehungsstörung; Gestört ist die Beziehung zum Essen, zur Nahrungsaufnahme, zur Sättigung, zum Appetit, zum Hunger, zur Selbstkontrolle, zu den Eltern oder dem, was Ersatz sein musste.

Gesucht wird das Nirwana, die Bedürfnislosigkeit, geliefert wird vom zu-viel-Essen allenfalls die Betäubung, wenn der Verdauungstrakt das Blut bindet und der Kopf dann leer ist.

Nicht gesucht wird die Befreiung von alten, dysfunktionalen Gewohnheiten, Bedürfnis-Befriedigungs-Strategien, Trieb- und Partialtriebzielen.

“Rückblick” via Entwicklungspsychologie

Weil wir – nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Körperbewusstsein, um das es nicht immer zum Besten steht – hier die “tieferen Persönlichkeitsschichten” angesprochen hatten und annehmen, dass die tieferen Schichten auch die älteren, in unserer Entwicklungsgeschichte zuerst entstandenen, “aufgezeichneten” Schichten sind, und weil in diesem Zusammenhang die reine Verstandes- und Vernunftkontrolle unserer Handlungen nicht so hundertprozentig funktioniert, erscheint es sinnvoll, kurz einen Aspekt aus der Entwicklungspsychlogie zu erwähnen:
Denn zwar sind wir hier alle erwachsen, aber die Grundlage unserer Persönlichkeit hat sich während der frühkindlichen Entwicklung hergestellt, denn der Mensch kommt recht unfertig zur Welt und die “Ausformung” der Persönlichkeit ist, was uns erst zum handelnden Wesen macht, aber auch ein recht komplizierter, um nicht zu sagen komplexer Vorgang:

“Der Fähigkeit zur kognitiven Steuerung von Handlungsvollzügen geht … die Orientierung über die Affekte voraus … . Spitz hat die sensible Art der Wahrnehmung mit dem Begriff der “Tiefenempfindung” umschrieben.   …
Auf der Stufe der “coenästetischen Organisation” liegt der Schwerpunkt der Wahrnehmung in extensiven Empfindungen, sie hat ihr Zentrum im autonomen Nervensystem und manifestiert sich in Affekten.
Auf der zweiten Stufe der “diakritischen Organisation” findet die Wahrnehmung vermittels peripherer Sinnesorgane statt. … Die diakritische, nach draußen gerichtete Wahrnehmung geht aus der coenästhetischen, nach innen gerichteten Wahrnehmung hervor … .”
Aus: Gerspach, Manfred: Psychoanalytische Heilpädagogik, W. Kohlhammer Verlag 2009,  S. 101

Anders gesagt, und in Bezug auf unser Thema formuliert: Ein Kind kann nur “affektiv”, nicht verstandesorientiert, entscheiden, was es ["essen"] will. Beim Säugling braucht es zudem nicht viel Auswahl – Muttermilch ist immer das Beste. In unserer Kultur stellte sich für manche gesellschaftlichen Kreise aus “modischen Gründen” noch die Alternative der Ammenmilch hinzu, weitgehend entscheidet heute die Mutter, ob sie stillen oder industriell hergestellt Säuglingsnahrung verwenden will – das ist ja alles bekannt.

Dabei wirkt die Tiefenwahrnehmung, hoffentlich von Ammenmärchen und Werbeaussagen  unbeeinflusst und unverfälscht. Man kann zur “coenästhetischen Wahrnehmung” viel googeln und wenig finden; deshalb erzähle ich hier, dass im Seminar Prof. Alois Leber in diesem Zusammenhang auf das Beispiel von Pferd und Reiter verwiesen hatte, die z.B. auf einem Parcours in gewisser Weise zu einer Einheit “verschmelzen”, da sind nicht mehr viele Worte im Spiel, sondern eine direkte Kommunikation, die Wahrnehmung kleiner Reize, die Aussendung, das Verstehen und die Umsetzung von Körpersignalen, Pferd und Reiter bilden quasi (allerdings vorübergehend) eine Einheit.

Für die Mutter-Kind-Beziehung bedeutet das: Sie kann unmittelbar warhnehmen, was “es” braucht, will, oder was ihm fehlt.

Für “den Menschen” bedeutet das: Die Bedürfnisbefriedigung ist immer eine vermittelte, nie eine unmittelbare (selbst, wenn das Bedürfnis schon gestillt wird, bevor es überhaupt sich bemerkbar macht).

Bei der Entwicklung geschmacklicher Vorlieben gilt: “Süß und fettig” als Präferenz ist angeboren, basta.

Alles andere “muss” erlernt werden. Manchmal probiert die Mutter gemeinsam mit dem Kind, was ihm guttut, manchmal wirkt sie stärker lenkend. In diesem “Mutter-Kind-Dialog”, dessen Grundlage die coenästhetische Wahrnehmung darstellt, herrscht ein Geflecht von Tiefen- und Oberflächenwahrnehmung, wird Persönlichkeit geformt. Bald handelt es sich bei den Bedürfnissen um Geformtes, das eine genetische Grundlage hat; das ausgeformte Bedürfnis kann nicht angeborgen sein.

Die “Entwicklung geschmacklicher Präferenzen” ist dabei nur ein kleiner, in unserem “Bewusstsein” vielleicht überbewerteteter Teilaspekt.
Ohne das “grenzenlose” Marktangebot von Zucker, Fetten und Alkohol wäre das auch alles kein Problem, aber wir haben das Problem und sollten erkennen, dass unsere Vorlieben kein Naturgesetz sind, sondern es handelt sich um “Gelerntes” und auch Gewohntes.

Bei mir ist es schier unmöglich, den Kaffee schwarz zu trinken. Die Kaffeesahne liefert vielleicht den “Süß und fettig”-Aspekt mit; als ich mir neulich “interessehalber” mal eine Packung Malzkaffee gekauft hatte, war das plötzlich ein Wiederauftauchen einer Kindheitserinnerung, und dass es halb Malzkaffee, halb erhitzte Milch sein musste, war “klar wie Kloßbrühe”,  hier also die unveränderbar abrufbare Erfahrung der Kindheit, als es für die Kinder bei Geburtstagsfeiern zum Kuchen auch Kaffee gab, nämlich “Kinderkaffee”.

Dass ein ungesüßter  Natur-Joghurt immer noch wirklich  ein Nahrungsmittel ist, muss, wer den “guten Bauer-Fruchtjoghurt” bevorzugt, auch wieder lernen (Nirgends schmeckt Birne so sehr nach Birne wie in diesem Joghurt – die Gesamtkomposition scheint für eine hohe Geschmacksverstärkung zu sorgen – sorgt aber auch für mehr Zucker-Kalorien).

Gelernt wird meist mit Hilfe von Vorbildern, durch Identifikation und auch Imitation – was die Werbeindustrie zu nutzen weiß. Über den Sinn von Ge- und Verboten in diesem Zusammenhang hatten wir bereits gesprochen, andererseits haben wir bei der Gestaltung der Ernährung, im Gegensatz zum Verhalten im Straßenverkehr, recht große Gestaltungsspielräume.

Nun haben wir also gelernt, dass unsere Vorlieben nicht angeboren, sondern erlernt sind – da fällt der  Blick auf die Speisekarte: Schweinshaxe mit Sauerkraut und Kartoffelpüree, und zwar im Buch “Weil ich ein Dicker bin: Szenen eines Lebensgefühls“auf Seite 298:

Hier beschreibt Eisenhauer das Abschlusstreffen einer “geleiteten Abnehmgruppe”, offenbar in einer traditionellen Frankfurter Gastwirtschaft, und mich verwundert, dass die Teilnehmer ganz “unfrankodderlich” zu Salat mit Putenbruststreifen greifen statt zu “was Ordentlichem” – “wohl zu fein für Handkäs’ mit Mussick?”

Zwischen den Zeilen war zu lesen, dass die Teilnehmer des (“arschteuren”) Abspeckkurses zwar etwas über die Kaloriendifferenz von gegrilltem und gebratenem Roastbeef gelernt, sich aber wenig mit den Tiefen der Persönlichkeitsstruktur beschäftigt hatten. Aber auch mit der Ernährungslehre kann es nicht allzu weit gegangen sein, sonst hätten die Teilnehmenden sich wenigstens übers Sauerkraut freuen müssen – und die Größe des “Haspels”, auch die Zubereitungsform der Kartoffel ist ja verhandelbar.

“Diät” also immer noch als Einschränkung – wie lange noch? Und warum bleibt nur die Hälte der Abspeckkursteilnehmer bis zum Schluss dabei?

 

Alle Artikel aus der Serie “Handbuch zum Abnehmen” findest Du im Artikel “Das kleine Handbuch zum Abnehmen”.

 

 

 

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